Auswandern: Flucht oder Segen?

Auswandern: Flucht oder Segen?

28. Mai, 2024
Kategorie: Coaching

Schon als ich etwa 23 Jahre alt war und die Chance hatte, ein Erasmus-Studiensemester in England zu absolvieren, verspürte ich einen tiefen Wunsch, auszuwandern. Damals zog es mich am ehesten nach Frankreich, besonders nach Paris. Ich wollte weg von meiner Familie, meinen Verwandten, und dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, um neu anzufangen. Doch letztendlich habe ich es nicht getan, weil eine gute Freundin meinte, das wäre nur eine Flucht.

Mittlerweile habe ich den Schritt doch gewagt. Ich habe ein Jahr lang in Thailand gelebt und bin inzwischen in verschiedene Länder Europas zurückgekehrt. Aber habe ich es gemacht, um zu fliehen? Ganz sicher nicht. Nachdem ich von Zuhause ausgezogen war, habe ich mir ein eigenes Leben in meiner Heimatstadt aufgebaut. Beruflich war ich erfolgreich, ich habe durch meine Zeit in der Gastronomie viele tolle Menschen kennengelernt und mir eine sichere Wohnoase geschaffen.

Alles änderte sich, als ich auf meiner Thailand-Reise meinen Seelenpartner traf. Spontan blieb ich bei ihm in Thailand. Es fühlte sich von Anfang an richtig an, und ich sprang ins Ungewisse. Nachdem ich alles in der Schweiz aufgelöst hatte und langsam in der Beziehung und in Thailand ankam, spürte ich zum ersten Mal eine große Leere. Plötzlich kannte ich niemanden mehr. Ich musste meinen Bekanntenkreis von null aufbauen. Vorher war ich es gewohnt, dass ich für Menschen der Sonnenschein war. Oft habe ich Menschen energetisch aufgebaut und es wurde ein Teil meiner Identität. Ich fühlte mich gut, weil mich Menschen brauchten.

Plötzlich fiel das alles weg. Es gab niemanden mehr vor Ort, der mein Coaching brauchte oder mit mir ein paar aufbauende Worte suchte. Da starb mein Ego förmlich ab. Dieser „Egotod“ fühlte sich wie ein Absterben an. Nichts Schönes. Ich habe buchstäblich von toxischen Abhängigkeiten entgiftet. Das passierte, weil ich meine Bedürfnisse selbst erfüllen musste und nicht mehr in der Position war, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen. So starben alle Co-Abhängigkeiten ab.

Erst mit der Distanz von 8000 Kilometern habe ich physisch mit meinem Nervensystem erfahren, wie es ist, sich von diesen Abhängigkeiten zu lösen, keine Retteridentitäten mehr zu pflegen und einfach nur für das eigene Leben verantwortlich zu sein. Ich durfte mich neu finden, alte Identitäten ablegen und stehe heute gesünder da.

Definitiv kann Auswandern eine Flucht vor der Realität sein. Doch nach meiner eigenen Erfahrung würde ich es vielen Menschen raten, besonders nach toxischen Beziehungen, mal für eine Weile auf geografische Distanz zu gehen. Ein Ortswechsel eröffnet eine neue Realität, die frei vom alten Ballast ist, und so findest du viel eher heraus, wer du bist ohne deine bereits gemachten Erfahrungen, Prägungen und Verknüpfungen.

Mittlerweile reise ich mit meinem Partner in Europa umher. Ich kann mit den Menschen der Vergangenheit sprechen, kenne meinen Wert, gehe meinen Weg und habe gesunde Beziehungen mit Grenzen und Werten. Natürlich falle auch ich immer wieder in alte Muster von Opfer, Täter oder Retter zurück, denn auch ich bin ein Mensch wie du, aber ich werde mir dessen schneller bewusst.

Ich hoffe, meine Geschichte inspiriert dich, deine eigenen Schritte zu gehen, egal wohin sie führen mögen. Denn manchmal ist ein Tapetenwechsel genau das, was wir brauchen, um zu uns selbst zu finden.